S drehte sich um Berlin
Zeitreise nach Bernau: So erlebten Besucher:innen das Festival zum 100. Geburtstag der Berliner S-Bahn.
„Steigen Sie ein in den Zug von Berlin nach Bernau. Mit Elektrizität! Endlich ungefährlich, erprobt!“ Pünktlich geht’s los am Stettiner Vorortbahnhof – pardon, Nordbahnhof – heißt der ja heute. Die geladenen Gäste dürfen auf hellen Holzbänken Platz nehmen, und im historischen Jubiläumszug zurückreisen in die zwanziger Jahre. Ins letzte Jahrhundert.
„Ziiiiisch“ machen die Druckluftbremsen. „Klack, klack, klack“, tönt es. „Das ist der Fahrmotor. Die Relais, die Stufen höher schalten“, erklärt Oscar vom Verein Historische S-Bahn fachmännisch. Der Sound der Vergangenheit ist ein ganz besonderer.
Hauptberuflich steuert Oscar ICEs mit über 300 Stundenkilometern quer durchs Land. Vergangene Woche tauschte der junge Lokführer seinen blau-roten Dienstblouson gegen eine alte Uniform und knipste mit einer kleinen Metallzange vergnügt Fahrkarten aus Pappe ab.
Der Jubiläumszug ist mit vier Wagen unterwegs – Baujahr 1928 und 1938. In der Holzklasse geht’s durch die Hauptstadt, erst durch den Tunnel, später vorbei an Lärmschutzwänden, Häusern und Kleingärten bis schließlich Bäume und Wiesen zu sehen sind.
Kurz hinter Blankenburg winken Trainspotter auf dem Feld enthusiastisch: Mit riesigem Stativ und Kameras fangen sie die Jubiläumsfahrt ein: Genau vor 100 Jahren, am 8. August 1924, fuhr vom heutigen Nordbahnhof erstmals eine „Elektrische“ nach Bernau: die „offizielle Geburtsstunde“ der S-Bahn.
Statt zu dampfen und zu schnaufen, sind die neuen Stadtbahnen mit Gleichstrom unterwegs.
Berliner Schriftsteller in seinem Geburtstagsgruß an die S-Bahn
Im Führerstand des Jubiläumszugs steht Walied Schön vom Verein Historische S-Bahn und Lokführer bei der S-Bahn Berlin: „Wir sind unglaublich froh und erleichtert, dass alles rechtzeitig fertig geworden ist.“
Gemeinsam haben sie im Verein monatelang geschraubt, getüftelt, alte Unterlagen gewälzt und am Computer gesessen, damit der Oldtimer mit moderner Zugsicherungstechnik auf die Jubiläumstour gehen kann. Ein Bordcomputer unter der Holzbank überwacht jetzt die Fahrt und stoppt den Zug im Notfall automatisch.
Genauso wie vor 100 Jahren läuft jedoch alles wie am Schnürchen. Als der Jubiläumszug am rappelvollen Bahnsteig in Bernau eintrifft, winken die Fans und klatschen wild – als wäre er ein Popstar.
Auch der achtjährige Hugo ist dabei: „Ich mag alles, was alt ist. Die alten Züge haben so viele Knöpfe und Hebel, die man drücken kann.“ Auf dem Kopf trägt er eine Eisenbahnermütze. „Die habe ich im Museum gekauft.“ Robert hat sich auch in Schale geworfen für den festlichen Anlass: „Das ist eine historische Reichsbahner-Uniform, von wann genau weiß ich nicht“, erklärt der Rentner.
Und natürlich haben Fahrgäste im glamourösen Zwanziger-Jahre-Stil ihren großen Auftritt. Paillettenkleider, Federn, Stirnbänder und Zigarettenspitzen sind auf dem Bahnsteig zu sehen, aber auch sommerliche Strohhütchen, Knickerbocker, Monokel und Einstecktuch. Emmeline und ihre Mutter Manuela aus Bernau tragen zum Retro-Outfit zwei große alte Lederkoffer. Was da wohl drin ist?
Gleich gegenüber gab es noch zwei Geburtstags-Überraschungen am Bahnhof: Kurz vor dem historischen Zug fuhr die S-Bahn der Baureihe 481, die genau vor 10 Jahren auf den Namen Bernau getauft wurde, ein. Direkt nach der Ankunft des historischen Sonderzugs schickte die S-Bahn Berlin dann noch ein ganz besonderes Fahrzeug aufs Gleis: Ein Zug, der komplett mit zehn verschiedenen Fahrzeugdesigns der vergangenen 100 Jahre beklebt ist.
„Ich bin die Marie von der Haller-Revue! Im Tanzen bin ich ein Genie!“, klingt es eine Etage tiefer. Nicht nur auf dem Bahnsteig, auch auf dem Bahnhofsvorplatz sind die „Roaring Twenties“ angesagt. Gespielt werden Walzer und Schlager vom Brandenburgischen Konzertorchester Eberswalde. Nach dem Anschneiden der Geburtstagstorte swingen die Festival-Gäste im Takt der Zwanziger. „Quick, quick, slow – schnell, schnell, langsam.“ Zu Charleston und Lindy Hop fliegen Arme und Beine in die Luft. Beim Schnupper-Tanzkurs sind die neunjährige Amelia und ihre Mutter dabei.
Mutter von Amelia und Besucherin des Festivals in Bernau
Wer abends bei der großen Geburtstagsparty am BeachMitte weiterfeiern wollte, stieg in den Sonderzug Richtung Nordbahnhof oder fuhr mit der S2 zum Fest. Bands wie Westhafen, Mitsune oder Hitgirls sorgten auf dem sandigen Dancefloor für Stimmung.
Als Kultrapper Romano seine Songs performt, wird es richtig voll. Natürlich darf auch „S-Bahn fahr’n“ nicht fehlen:
Musiker
Seine besonderen Momente mit der S-Bahn?
Musiker
Noch mehr Konzerte und Sonderfahrten, aber auch Podcasts, Ausstellungen, Führungen, Filme, Installationen, Lesungen und vieles mehr gab’s an den anderen Festivaltagen: Wer wollte, konnte weitere besondere Momente aus der Geschichte der S-Bahn erleben. Glückliche, traurige, aufregende.
Im Tränenpalast erzählte Schauspielerin Sabine Weißhaar aus der Zeit der geteilten Stadt, als sich am ehemaligen Grenzbahnhof Friedrichstraße Menschen für immer trennen mussten. Oder vom 9. November 1989, als Lokführer Dieter Müller jubelnde Menschenmassen über die Grenze transportierte: „Ich hatte zum Schluss keinen Hut mehr auf, keinen Knopf mehr an der Jacke, ich sah wie ‚Schlumpi‘ aus und war mit Sekt bespritzt von ‚Hacke bis Nacke‘.“