Barrierefrei in Berlin: Unterwegs mit Raúl Krauthausen
Berlin ist groß, weitläufig und dabei trotzdem gut mit der S-Bahn zu erreichen. Auch mobilitätseingeschränkte Menschen können problemlos die Stadt erkunden. Unser Gastautor Raúl Krauthausen hat uns auf eine seiner Reisen durch Berlin mitgenommen.
Barrierefrei mit der S-Bahn in Berlin unterwegs
Wer mit dem Rollstuhl zum ersten Mal die Berliner S-Bahn benutzt, sollte diese 3 Punkte unbedingt beachten:
- Vorne einsteigen
Anders als zum Beispiel in Hamburg, sollte man als Rollstuhlfahrer*in in Berlin immer in den ersten Waggon hinter dem*r Fahrer*in einsteigen, denn es kann passieren, dass man mit dem Rollstuhl zwar prima in den Zug hinein kam, aber am Anhalter Bahnhof plötzlich vor einem riesigen Abstand zwischen Zugboden und Bahnsteig steht. Oder am Potsdamer Platz der Höhenunterschied zwischen Bahnsteig und Zug unüberwindbar ist.
Dann einfach freundlich an die Tür zum*r Fahrer*in klopfen, der*die wird eine auf dem Bahnsteig befindliche Rampe an den Zug legen und schon sind Höhen und Abgründe überwunden. - Vorher die Fahrtroute auf Barrierefreiheit checken.
Auf der Website der S-Bahn Berlin gibt es im Routenplaner die Möglichkeit, sich die Strecke zum Wunschziel voll barrierefrei anzeigen zu lassen. Auf dem Liniennetzplan sind die Bahnhöfe, die mit einem Aufzug oder direkt per Rampe zugänglich sind, durch Symbole gekennzeichnet. - Schaut, ob die Aufzüge wirklich funktionieren.
Es gibt zwei Online-Angebote, die zeitnah anzeigen, welche Aufzüge gerade defekt sind:
Auf der Website der S-Bahn gibt es eine Liste von Mobilitätsstörungen von Aufzügen und Rolltreppen.
Die Website BrokenLifts bietet eine aktuelle Liste von defekten Liften.
Mein Plan heute: Ich treffe meinen Kindergartenfreund Oliver. Seit fast einem Jahr haben wir uns nicht mehr gesehen.
Es geht los!
Ich starte meine Fahrt am geschichtsträchtigen S-Bahnhof Lichtenrade. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es diesen Bahnhof, der Dresden mit Berlin verband. Während der Teilung der Stadt wurde der Bahnhof zum Endbahnhof und die Strecke Richtung Süden stand still.
Seit der Maueröffnung rattern die S-Bahnen wieder über die kleine Bahnhofstraße von Berlin nach Brandenburg. Demnächst soll hier sogar die Fernbahn Richtung Dresden entlangfahren.
Für Rollstuhlfahrer*innen praktisch: In Lichtenrade gibt es eine Rampe und man kommt ohne Hindernisse direkt auf den Bahnsteig. Natürlich auch ideal für Kinderwagen und Menschen mit Rollatoren und anderen Gehhilfen.
Ich bekomme ganz knapp noch die Bahn in Richtung Innenstadt, die Türen schließen sich und ich bin unterwegs.
Meine nächste Station: Der Bahnhof Südkreuz.
Hier trifft die S-Bahn auf die Fernbahn – nur zwei Aufzüge voneinander entfernt.
Ich mache einen kurzen Abstecher auf den Fernbahnhof. Von hier aus fahre ich regelmäßig nach München zu meiner Talk-Show KRAUTHAUSEN – face to face.
Am sogenannten “Zukunftsbahnhof” Südkreuz werden allerhand neue Technologien präsentiert, die nach und nach auch an anderen Bahnhöfen eingesetzt werden. Wie zum Beispiel der interaktive Wagenstandsanzeiger.
Wer mich kennt, weiß, dass ich ein Technik-Nerd bin und mich gerne durch neue technische Möglichkeiten begeistern lasse.
Aber schnell weiter, zurück zur S-Bahn Richtung Anhalter Bahnhof.
Am Anhalter Bahnhof steige ich um. Noch eine geschichtlich spannende Station auf meiner Strecke. Vor dem Ersten Weltkrieg war dieser Bahnhof die wichtigste Verbindung nach Italien, Frankreich und Österreich-Ungarn. Es gab sogar eine Direktverbindung nach Neapel.
Während der Schlacht um Berlin zum Ende des Zweiten Weltkrieges fanden in den unterirdischen Anlagen des Bahnhofs und den S-Bahntunneln tausende Menschen Zuflucht vor den Bomben und den anrückenden russischen Truppen. Eine Tragödie, deren genaue Umstände bis heute ungeklärt sind, spielte sich hier in den letzten Kriegstagen ab: Die Decke zum Landwehrkanal wurde gesprengt und Teile des Nord-Süd-Tunnel dadurch geflutet. Wie viele Menschen ertranken ist unbekannt, es gibt Schätzungen von mehreren hundert und auch tausenden Opfern. Ebenso mysteriös: Wer die fraglos professionelle Sprengung durchgeführt hatte.
Das Fragment der Säulenhalle, das heute noch steht, lässt kaum erahnen, wie der berühmte Anhalter Bahnhof früher ausgesehen haben mag.
Auch hier sind Aufzüge für mich unersetzlich.
Noch vier S-Bahnstationen und ich bin endlich in meinem Heimat-Kiez, in dem ich aufgewachsen bin und mit dem ich viele Erinnerungen verbinde: Friedenau.
Ein inklusives Leben
Mein Ziel ist das kleine S-Café. Es ist zwar nicht komplett barrierefrei, denn dafür müsste es noch eine behindertengerechte Toilette haben. Es ist aber wenigstens ohne Stufe zu erreichen.
Schon als Kind war ich hier mit meiner Mutter und meinen Freunden. Ich erinnere mich gerne daran, wie die Scheiben im Winter beschlugen und wir drinnen stundenlang gemütlich in der Wärme Spiele spielten, während es draußen klirrend kalt war. Und an Käsekuchen und heiße Schokolade.
Ich sehe meinen Freund Olli schon aus der Ferne, ich bin ein bisschen zu spät dran. Auch heute ist es wieder so behaglich und schön wie damals. Gemeinsam schwelgen wir in Erinnerungen und erzählen seiner Freundin, wie das damals so war.
Meine Kindheit war für ein behindertes Kind in den 1980er Jahren nicht sehr typisch: Meine Mutter entschied sich gegen jede Form von Sondereinrichtung und so kam ich zunächst in die Krabbelgruppe und später in den Kindergarten des Kinderhauses Friedenau. Und lernte hier Olli kennen.
Ich habe sogenannte Glasknochen, die präzise Bezeichnung lautet Osteogenesis imperfecta, und als Kind brach ich mir tatsächlich häufiger etwas. Trotzdem packte meine Mutter mich nicht in Watte. Ganz im Gegenteil: Rein ins pralle und wilde Kindergartenleben, bei dem es eben auch mal drüber und drunter ging. Genau die richtige Entscheidung.
In der Grundschule waren Olli und ich weiterhin zusammen in einer Klasse. Es gab pro Klasse 15 Schüler*innen, von denen je 3 irgendeine Behinderung hatten.
Es gab wenig Leistungsdruck, dafür viel soziales Miteinander und Engagement. Wir lernten nach einem Wochenplan, den man selbst organisiert erfüllen musste. Wer früher fertig war mit seinen Aufgaben, half den Mitschülern*innen, die noch nicht soweit waren, um dann schließlich gemeinsam spielen zu können. Es war ein Geben und Nehmen, vollkommen unabhängig davon, ob ein*e Schüler*in eine Behinderung hatte oder nicht.
In den Medien und der Politik gibt es gerade wieder eifrige Gegner der Inklusion, die große Bedenken verbreiten, ob gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung nicht für alle ungünstig sei: Den behinderten Schülern*innen nicht genügend Förderung ermögliche und die Schüler*innen ohne Behinderung durch die behinderten Mitschüler*innen beim Lernen gestört würden. Aus der Erfahrung meiner Schulzeit kann ich sagen: Das ist Unsinn!
Und auch wenn der geringere Leistungsdruck möglicherweise weniger Schulstoff in unsere Hirne drückte, lernten wir alle nach unseren Möglichkeiten. Das gemeinsame Helfen bei den Aufgaben bot nicht nur soziale Erfahrungen, sondern auch gemeinsame Lernerfolge.
Im übrigen beendeten Oliver und ich die Schule schließlich mit erfolgreichem Abitur, schlossen jeder ein Studium ab und sind beide beruflich sehr zufrieden unterwegs.
Über Raúl Krauthausen
Raúl Krauthausen ist Aktivist, Social Entrepreneur, TV-Moderator, Autor und ständig dabei, zusammen mit vielen anderen klugen Köpfen, einfache Lösungen für komplizierte Probleme zu finden. Er moderiert die Talkshow KRAUTHAUSEN – face to face und engagiert sich für die Projekte SOZIALHELDEN e.v., Wheelmap, Heimexperiment und AbilityWatch.